Flaschenpost vom Uropa im Dielenboden
Jonas Ernzer war schon länger auf der Suche nach einem Haus in seiner Heimat im Eifelort Dingdorf. Ein leerstehendes Objekt hatte es ihm angetan: ein über 300 Jahre altes Gebäude mit Bruchsteinwänden und Schieferdach. Schließlich kauft er die Immobilie. Für den 25-Jährigen ein Glücksfall: „Ich mag alte Häuser. Sie sehen schön aus und ich finde das Wohnklima darin einfach besser“, sagt er. Allerdings fallen in dem Altbau teilweise morschem Gebälk und ohne Heizung viele Ausbesserungsarbeiten an. Wenn, dann richtig: Jonas Ernzer entscheidet sich für eine Kernasierung.
Als ausgebildeter Handwerker kann er viele Arbeiten selbst verrichten. Schließlich hat er gerade seinen Schreinermeister an der Handwerkskammer Trier gemacht. „Dort habe ich viel gelernt, was ich in meinem neuen Zuhause gleich anwenden kann“, freut er sich. Als er beim Renovieren unter dem Holzdielenboden eine Flaschenpost entdeckt, staunt er nicht schlecht. Er lockert den alten Dielenboden und findet „eine Flaschenpost aus farblosem Glas, etwa so groß wie ein Schnapsfläschchen, mit schön verschnörkeltem Kranz und vor allem fest verschlossen.“ Aber der Korken bewegt sich keinen Millimeter. Um an die Nachricht kommen, zerschlägt Jonas die Flasche. Schließlich hält er die 88 Jahre alte Botschaft in der Hand. Eine Flaschenpost aus der Versenkung zu holen, fand Jonas schon aufregend genug. Noch mehr hat ihn der Absender überrascht: Neben dem damaligen Hausherrn trägt das Schriftstück die Unterschrift von Jonas‘ Urgroßvater, dem Schreinermeister Nikolaus Ernzer!
Was zunächst wie ein riesiger Zufall wirken mag, erscheint vor der Familientradition gar nicht mehr so abwegig: Der Schreinerberuf gehört zu den Ernzers wie Dingdorf zum Eifelkreis Bitburg-Prüm. Seit mindestens vier Generationen lebt und liebt die Familie dort den Schreinerberuf. Dingdorf ist – im besten Sinne des Wortes – ein Nest voller Schreinermeister: Jonas‘ Urgroßvater Nikolaus, Großvater Matthias, Vater Klaus-Peter und dessen Bruder Alfred, schließlich Jonas selbst und sein Bruder Lukas (26). Und auch David (21), der dritte Bruder im Bunde der jüngsten Linie, macht gerade seinen Meister in Trier.
Auf dem Schriftstück sind der Tag und die Ausführung des Auftrags in Sütterlinschrift festgehalten: „Dingdorf, den 23. Juni 1933. Dieses Zimmer hat der Schreinermeister Nikolaus Ernzer aus Dingdorf und Hauseigentümer Johann Weber Fußboden gelegt am 23. Juni 1933. Schreinermeister war alt 47 Jahre, Eigentümer 51 Jahre.“ Nicht die Tatsache, dass Bauherr und Handwerker beim Bau des Hauses der Nachwelt eine Botschaften hinterlassen haben, hat Jonas überrascht. Denn dieser Brauch war für ihn nichts Neues: „ In alten Häusern haben wir schon zwei- bis dreimal solche Schriftstücke gefunden. Sie sind bei uns im Betrieb ausgestellt.“
Die eigentliche Überraschung war für Jonas der Zufall, dass sein Urgroßvater zu den Absendern der Flaschenpost gehört. Denn zuerst dachte Jonas, dass die Nachricht von seinem Vater und Großvater stammt. Die beiden hatten früher auf Baustellen hin und wieder ähnlichen Botschaften hinterlassen. Er wusste auch, dass sie seinerzeit für das Haus im Waldweg eine Haustür geschreinert hatten. Als er dann aber den Namen von Nikolaus Ernzer auf dem Zettel fand, war die Freude über die Botschaft des gemeinsamen Vorfahren umso größer.
„Heute hinterlassen nur noch wenige Schreiner solche Botschaften“, sagt Jonas, „weil alles schnelllebiger ist. Auch das Interieur von Häusern wird heute dem Zeitgeist entsprechend häufiger gewechselt. Gründlich und qualitativ hochwertig wird auch heute noch gearbeitet, aber eben moderner.“ So gehört es bei ETS wie bei vielen modernen Schreinereien zum Arbeitsalltag, Treppen am Computer zu konstruieren. Für Nikolaus Ernzer und dessen Generation dürfte das unvorstellbar gewesen sein. Genauso wie die Tatsache, dass einmal sein Urenkel das Hauses im Waldweg besitzen und seine Flaschenpost dort finden würde.